Armenien

Goris – Gogavan (15. – 26.09.)

Mit dem Wind auf unserer Seite ist die weite Ebene die Süd- und Nordarmenien verbindet eine kühle, aber im Vergleich zu den uns begegnenden Radreisenden die sich Meter für Meter erkämpfen, eine Richtung mit viel Schub von hinten. Das Wetter schlägt zwar am Abend um und gerade rechtzeitig kommen wir im schützenden Zelt zusammen, doch die gleiche Front schiebt uns auch am nächsten Tag über die Hauptverkehrsstraße, der wir am Abend gemütlich im Weinrebengarten zeltend, entkommen. Pfirsische, Trauben und eine Einladung im nächstgelegenen Ort inklusive. Wie in einer Oase ruhen unsere Gedanken in der Abendsonne, wenn das Gras im Wind raschelt und das Abendessen im Topf köchelt.

Mit Hilfe der walnusssammelnden Nachbarn im Dorf am nächsten Morgen zirkeln wir uns in den Hof unserer Gastgeber. Leider ist das alte Paar bereits außer Haus in den Weinreben am Ernten und nur ihre Tochter Julia mit kleinem Sohn empfangen uns bei Kaffee und einem ausgiebigen zweiten Frühstück. Mit viel mütterlicher Wärme und einem riesigen Paket an köstlichen Naturalien lässt sie uns eine Stunde später nur traurig mit ihrem Kleinen im Arm und den Nachbarn vor der Tür vom Hof fahren. Bei solchen unglaublichen Menschen, die uns Fremde in ihr privates Leben einladen, ihre Köstlichkeiten voller tiefer Ehrlichkeit anbieten, sind wir im Herzen tief bewegt. Nicht selten geraten die Gedanken in eine offene Diskussion, über das Bewusstsein von Reichtum in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, gerade wenn eine konsumgeprägte Gesellschaft auf Strukturen trifft, die sich am fassbaren, wachsenden Prozess der Natur orientieren mit enormem Wissen über die Zusammenhänge der Ressourcen der Erde und des Menschen, aus denen eine lebendige Ethik und ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Leben basiert.

Reich an Zeit, Beinkraft, Sonne, Lebensmitte und Freiheit, gehören wir auf dem Anstieg hinauf auf die Hochebene am Selim Pass zu den Superreichen. Spürbar steil liegt die Passage bis knapp vor Sonnenuntergang unter den Rädern. Wie eine Belohnung liegt kurz vor dem Sattel die größte Karavanserei des Landes auf einem vorgesprungenen Hügel auf der Route der armenischen Seidenstraße. Hinter dem Sattel entzückt die schneebedecke Haube des Ararat den Horizont. Gleich danach finden wir Wasser an einem Brunnen, was uns das Campieren auf knapp 2400m Höhe ermöglicht.

Bei neuem Licht und Frühstück erinnert das weite Hochland und die Einsamkeit an das ferne Yunnan in Südwest-China. Atemberaubend liegen die Berge über den schweifenden Blick verteilt und die kleinen Orte haben eine gewisse Ähnlichkeit mit der Exklusivität der fernen Tibeter. Der Sevan See auf fast 2000m Höhe gelegen und in seinem Ausmaß mit dem Bodensee vergleichbar, liegt westlich am Fuße der Gebirgsgrenze zu Bergkarabach. Gerade bestimmt die Erntezeit das Leben vieler Menschen in den Siedlungen um den See. Mit Gemüse, Brot und frisch geschenkten Kartoffeln vom Acker, machen wir uns auf die Suche nach einem erholsamen Platz am Ufer, um bei Gelegenheit zwei bis drei Tage zu rasten. Währenddessen auf den Feldern und in den Gärten die Früchte des Jahres geerntet werden. Die Artenvielfalt an Vögeln zu Land und zu Wasser ist enorm. An einem schattigen Platz auf den weiten Flächen entlang der Uferlinie, richten wir uns ein. Das Land gehört einem authentisch, armenischen Cowboy, der mit seinem Pferd wie der geölte Blitz über das Weideland seiner knapp hundert Vieh starken Kuhherde, ihnen voraus oder entgegen donnert. Im Gespräch über Land und Leute gesellen sich auch die drei Hirtenjungen um uns, ein Auge ruht dabei stets auf uns, eines bei der Herde, ein drittes beschäftigt sich detailliert mit den Fahrrädern. Weshalb die Jungs spontan zum Kartoffelacker geschickt werden und wenig später mit einem vollen Eimer zurückkommen. Die Hälfte der Erdäpfel gard am Abend in der Glut unseres Feuers. Die andere Hälfte ruht für Tage in den vorderen Radtaschen.

Über die östliche Flanke des Sees, wieder sind es kleine Schritte weiter Richtung Norden, nur in den Siedlungen treffen wir auf Menschen, am Wasser sind, ausgenommen der Fischer, keine zu sehen. Nördlich über die M4 führt unser Weg von der Hochebene über Dilijan, Vanadzor und Stepanavan in Richtung Georgien. Es wird kalt in Armenien und auf den Dächern und Gaube der großen Berge fällt die Tage der erste Schnee. Mit warmen Erinnerungen und heißem Tee liegt unser Auge oben an der kleinen Kapelle hinter Vanadzor mit einem Lächeln über Land und Leute. Während am kommenden Morgen die Familien das heilige Gebäude mit ihrem Opfertier dreimal umsteigen, klettern die Temperaturen bereits wieder und die niederen georgischen Täler liegen nur noch eine Tagesetappe entfernt. Auf einem großen Findling in mitten der Weide stimmt am Abend ein Hirte im Sitzen zum Abendgesang an, es klingt als bedanke und verabschiede er sich in den letzten Tagen des armenischen Sommers von diesem.

 

Nurduz/Meghri – Goris (06. – 15.09.)

Im äußersten Süden mit dem Blick zu den iranischen Nachbarn, wo der Fluss Araz die natürliche Landmarke durch das schroffe Gebirge zieht, dort liegt Meghri. Eine kleine Stadt, die sich mit ihren alten Wehr- und Befestigungsanlagen in das nach Norden aufsteigende Tal einbettet und an deren Fuße die Gärten und Obstbäume im einsetzenden Spätsommer reich gefüllt sind. Gerade steht die Feigenernte in voller Blüte und an den überladenen Bäumen werden die prallweichen Früchte sorgsam, mit Bedacht gepflückt und anschließend in Kisten gelegt. Auf einer Hangterrasse zwischen Weinreben, Pflaumen- Feigen- und Kakibäumen mit Blick auf das grüne Tal lässt uns Sevan, ein herziger Armenier, der eine Terrasse tiefer seine Mutter betreut und zusammen mit der Familie den Garten bestellt, unser Zelt aufstellen.
Bis auf den Kaffee den er mit einem Lachen beim Frühstück am kommenden Morgen serviert, kommt alles aus seinem Garten! Selbst Maracuja, Süßholz und der frische Käse sind aus erster Hand! Nach den ersten Etappen in den Bergen der iranischen Provinz Westaserbaidschan und der langen Phase im Süden ohne Fahrrad, sind die Beine schwer wie Eisenträger und das Bedürfnis nach Erholung ist nicht zu überhören. Der entspannte Ort und seine süßen Früchte stimmen uns schnell zum Verweilen ein, die Gedanken an auslaufende Visa liegen hinter uns und bereits am nächsten Tag steht ein frisches Glas Feigenmarmelade auf dem Frühstückstisch, welches Leonie zuvor eingekocht hatte.
Die Armenier sind ein beherztes Volk, tief verbunden in ihren Familien und der Natur. Der ländliche Raum ist so ursprünglich, dass es der Atmosphäre in Zentralasien in vielerlei Hinsicht, nicht nur wegen der traditionellen Brotöfen zum Verwechseln ähnlich sieht. Nur in den größeren Orten ab Kapan, Goris, Dilijan, lässt sich eine verhaltene Trendwende spüren, doch die Uhren ticken nach wie vor langsam und noch startet jeder Tag mit dem Weckruf der Hähne, die über jede Stadt deutlich zu vernehmen sind.

Am vierten Tag im erholsamen Meghri, liegen die Gärten am Mittag hinter uns. Die Grenzanlage mit ihrem Stacheldrahtzaun erinnert und begleitet uns östlich Richtung China, bis der Wachturm, besetzt mit Soldaten uns daran erinnert, links nach Norden abzubiegen. Wohl wissend, dass geradeaus die nach Autonomie begehrende Region Bergkarabach liegt. Die Passstraße liegt malerisch einsam in den Bergen. Mit sporadischem Waldbestand ruhen sie mit ihren knapp 3000er Spitzen vor uns. Am Abend als wir den Sattel erreichen öffnet sich ein weiter Blick. Die Ortschaften im Iran fangen an zu leuchten und weit am Horizont kann man Karvana erkennen, auch weil sich die Mückenschwärme die noch zuvor in der Sonne wie wild auf stickende Radler abgingen, ihren Platz zum Schlafen gefunden haben. Mit kalten Nasen endet ein eindrucksvoller Tag.

Frierend beim Frühstück dauert es bis die ersten Strahlen über die Grasspitzen flackern und das Zelt langsam trocknet. Gut eingepackt liegen auf der Abfahrt die bewaldeten Hänge vor uns. Es riecht nach Wurzeln, Laub und frischem Holz, ein Geschmack von Heimat liegt unverfälscht in der Luft. In eleganten Kurven liegen die Dörfer bis Kapan verteilt entlang der Grenze zu Bergkarabach, wo kleine Läden das Notwendigste verkaufen, meist Bier und Schnaps über die Ladentheke an den Konsumenten gehen und die traditionellen Bäckerstuben das handtuchgroße Fladenbrot Lavash aus den heißen Schloten der Öfen ziehen.
Jeder noch so kleine Grund scheint eine neue Chance zu bieten einen selbstgebrannten Schnaps anzubieten. Die Tageszeit und das wir uns im Straßenverkehr aufhalten ist deutlich drittrangig. Immer wird mit dem Zeigefinger, der mit dem Daumen in gehaltener Spannung ruht auf die uns präsentierte Halsschlagader geschnippt als Zeichen der Einladung für einen starken Kurzen, der richtig Feuer hat. Nicht immer gelingt es diese Einladung auszuschlagen, weshalb unser hochprozentiger Konsum in den kommenden Tagen weit über dem Durchschnitt liegt, was nach dem Iran allerdings keine Überraschung ist. Am Abend öffnet sich nach einem langen Tag das Tor zu einer Tischlerei und mit dem Wasser aus der Werkstatt schieben wir die Räder auf eine oberhalb von Kapan liegende Viehwiese, mit dem Blick in die schimmernde Kleinstadt zieht die kühle Dämmerung ein und bald darauf sind die Schlafsäcke dicht verschlossen.

Mit Lavash, Gemüse und einer Tüte Kekse, scheint das Kloster Tatev in greifbarer Nähe, doch schnell stellt sich heraus, dass die unzähligen Anstiege und die Nebenstraßen die uns nach Norden führen sollen einem entspannten und zügigen pedallieren stark widersprechen. Mit erzwungenem Willen und ständigen Verschnaufpausen, in denen der Boden der Kekstüte schnell erreicht ist, gelingt es uns am Abend bei einsetzendem Regen, die 30 Kilometermarke und die frischen Haselnüsse, die an den vielen Büschen wachsen, zu knacken. Noch beim Aufbauen des Zelts kaspert die Dorfjugend mit ihren Fahrrädern über Wiese, Stein und Schlamm. Dann schneidet ein lauter Pfiff und ein bestimmender Ausruf das Tal und die Jungs fahren mit holzbeladenen Gepäckträgern nach Hause. Nur zwei Schweine schnaufen sich noch durch die Dämmerung und ein Pferd stoppt kurz um zu grasen. Auch am kommenden Morgen ist der Blick aus dem Lüfter eine schweinische Aussicht. Erst am Mittag wird der prasselnde Regeneinschlag auf der Zeltplane spürbar weniger. Eine Chance um im nahen Ort Käse, Brot, Kekse und Bier zu kaufen. Der Regentag ist damit der erste, der richtig genussvoll an uns vorbeizieht.

Mit durchnässtem Zelt erreicht der Tag auf der Passstraße nach Tatev am Nachmittag seinen höchsten Punkt. Die Sonne scheint, das Vorotan Tal liegt tief versteckt unter Wolken und als auf dem Sattel fünf Wohnmobile aus Frankreich den Parkplatz einnehmen, scheint Europa ein großes Stück näher zu rücken. Am späten Nachmittag lichtet sich die Wolkendecke und der verhaltene Strom an Abendtouristen versiegt. Das Kloster, ruht einen Steinwurf entfernt von uns im Sonnenuntergang, nichts erinnert mehr an Regen und schlammige Pisten. In spirituellem Flair fangen die Sterne schon bald beim Abendessen an zu leuchten und wenig später lässt sich jede/r zur Nachtruhe nieder.

Als sich die Pilgerbusse und Tagesreisenden am Morgen von Goris aus auf den Weg nach Tatev begeben, schwebt Leonie samt Fahrrad über das Tal hinweg. An der Gondelstation auf der gegenüberliegenden Seite finden wir auf unterschiedlichem Geruchslevel erneut zusammen. Sammelbusse, Taxis, der Parkplatz belebt sich und nach kurzem Plausch mit zwei Radreisenden die nach Tehran radeln, sitzen unsere Hintern wie gewohnt hart im Sattel. Am Nachmittag, an einer Grillhütte oberhalb von Goris trocknen in der Sonne die frischen Walnüsse und die zuvor gewaschene Wäsche, währenddessen eine vierköpfige Männergruppe mit drei unterschiedlichen, alten Autos vorfährt und diese anfangen ein üppiges Abendessen zu bereiten. Schnell stecken die Kartoffeln, Tomaten und Fleischportionen auf den Grillspießen, die Melone liegt zusammen mit Maulbeerschnaps und Pepsi im kalten Brunnenwasser, eingelegte Auberginen und Paprika ergänzen den Gurkensalat, neben frischen Trauben und einem riesigen Bund Basilikum. Als der Saft der Tomaten mit dem Fett leise in die Glut tropft, lassen die Männer von ihrem Kartenspiel ab und das noch warme Fladenbrot wird in kleinere Portionen geschnitten, während ein Topf mit dem Grillgut gefüllt, zwischen allen Leckereien Platz nimmt.
Es dauert nicht lange und die Gruppe beherzter Männer deuten mit dem Fingertapping der Halsschlagader in unsere Richtung, eine unmissverständliche Einladung zum Aperitif. In der kommenden Stunde leeren alle am Tisch Becher um Becher und obwohl unser Abendessen bereits ausgebreitet im Bauch liegt, müssen wir dem Hochprozentigen mit einem reich beladenen Teller entgegenwirken. Wieder setzt einer der Armenier einen neuen Trinkspruch an. Als alle einverstanden sind wird angestoßen, das Glas gehoben und geleert. Selbstverständlich sichern wir der Gruppe bei heute Abend keinen Meter unsere Räder zu besteigen, sondern geradeaus auf dem Acker im Zelt zu übernachten. Zufrieden entlassen sie uns in die Nacht, in der wir auf einem Stoppelacker unter starken Gleichgewichtsstörungen mit geübter Souveranität das Lager stellen.

Als die Sonne den neuen Tag in warmes Licht taucht, ist die Balance auf dem Rad wieder hergestellt und der Abfahrt hinunter nach Goris steht nichts entgegen. Eine Nacht im Gästehaus das hatte sich Leonie gewünscht, Dusche, Elektrizität, Internet und vielleicht einen anderen Gesprächspartner finden. Für eine Nacht schlafen wir unter dem Vordach im Freien, lernen Fabian, Aldo und Lena kennen, der Reihe nach aus Österreich, Frankreich und Japan, steigen in die Berge, zu den verlassenen Felsenhäusern und sichten die Backstuben der kleinen Stadt, in der die Besuchersaison gerade zu Ende geht.