Leonie’s erster Text:
Drei Tage Zugfahren!
Als das Bahnhofspersonal die Türen zum Bahnsteig öffnet kommt Unruhe auf, alle drängeln zur Glasschiebetüre, die auf den leeren Bahnsteig führt. Wir erheben uns langsam, als ein Großteil der Menge bereits ihren Weg zum Zug gefunden hat, da werden wir fast gescheucht, das Ticket zum zweiten Mal kontrolliert und raus auf den Bahnsteig, eine Tasche über jeder Schulter, die große ca. 25kg Tasche in der Mitte, Rucksack schleppen wir uns natürlich zum hintersten Ende des Zuges. Dritte Kontrolle der Tickets und geschafft ist es, für die nächsten 24 Stunden ist die Bewegung auf einige Meter auf und ab, hoch und runter von den Pritschen eingeschränkt. Wir richten uns ein mit unseren chinesischen Abteilnachbarn, Platz tauschen, um gemeinsam mit Clément und Matthieu ein Abteil zu teilen, nicht erlaubt!
Der Zug rollt los und so starten wir unsere 72 Stunden Zugfahrt. Vorbei geht es an Geisterbahnhöfen (keine Menschen, die warten, sich verabschieden oder begrüßen, der Bahnsteig darf nur mit gültigem Ticket betreten werden, wenn der Zug bereits wartet) durch die karge Wüste, durch die Nacht zum Umstieg nach Urumqi. War es in Kashgar angenehm spätsommerlich warm erwartet uns in Urumqi Regen, Wind, Kälte und Ungemütlichkeit. Da verlassen wir den Bahnhof, der eher einem Hochsicherheitstrakt gleicht nur kurz, um danach gemütlich in der Wartehalle zu dinieren.
Wieder im Zug erwartet uns im Nachbarabteil eine männlich aktive Kartenspielerrunde, immer wieder ertönen lautstarke Stimmen, kräftiges Räuspern und ein tspsh – das Schild „no spitting“ wird hier nicht so ernst genommen. Wir verbringen unsere Zeit mit lesen, schreiben, Bilder durchstöbern, nähen, essen durchmischt mit reichlich Schlafeinheiten. Wer glaubt Zugfahren ist langweilig, der irrt! Es gibt reichlich Abwechslung: verschiedene Verkäufer bieten von Gürtel, eingeschweißten Keksen oder Trockenfleisch, über Zahnbürsten, zu Powerbanks alles an. Von Zeit zu Zeit wabert eine Glutamatwolke durch den Waggon, dem folgt chinesisches Zugessen und diesem wiederrum lautstarkes Geschmatze. Je dichter man sich einem der Enden der Waggons nähert, desto intensiver wird auch der Tabakgestank, der im üppigen Dunst unangenehm lästigen Geschmack ins Badezimmer bringt und dann von der Klimaanlage im gesamten Waggon verteilt wird. Am Morgen strömt jeder 9te Chinese/In mit den Abteil-Großthermoskannen zur Warm-Wasser-Auffüll-Station, einem mit Feuer angeheiztem Heißwasserkessel.
Am Morgen des dritten Tages, endlich, die vorbeifliegende Landschaft mit ihren grünen Hügeln, Flüssen und Feldern erweckt den Wunsch wieder selbst zu strampeln. Dies dauert jedoch noch weitere 10 Stunden, bis wir Chengdu, die Pandastadt im Dunkeln erreichen, der Gedanke ganz präsent: sind unsere Räder auch da? Raus geht es aus dem Bahnhof, Lichter, Menschen, Gewusel, rechts um die Ecke, Zettel zeigen und in eine Tiefgarage abtauchend, stehen danach unsere Räder in gutem Zustand vor uns auf dem Bürgersteig, was ein Glück! Es dauert etwa eine Stunde, gut beobachtet von den chinesischen Cargomitarbeitern, bis die Räder fahrbereit und bepackt losrollen in die Großstadt. Wir sind alle 4 euphorisch, nach knapp einer Woche wieder den Sattel unterm Hintern zu spüren und rollen voller Freude durch die leuchtende Stadt zum auserwählten Hostel.
Ein schönes 6 Bett Zimmer gehört uns und es dauert nur wenige Minuten, bis darin das Radlerchaos ausgebrochen ist: 22 Taschen mit deren Inhalt kreuz und quer, die Wäscheleine mit der ersten zu trocknenden Wäsche im Zick-Zack gespannt und dazwischen 4 Radler kauend, mit mittellautem Peter Fox im Ohr – wir fühlen uns wohl! Die nächsten zwei Tage wollen wir Chengdu erkunden. Nicht zu spät starten wir mit den Rädern zur ersten touristischen Sehenswürdigkeit, dem Wuhou – Tempel. Ernüchtert von Touristenströmen und teuren Eintritten bevorzugen wir doch lieber ruhigere, kleinere Sträßchen und besuchen den von 2 Amerikanern betriebenen Natooke-Radladen und staunen nicht schlecht über Bambuslastenräder, Single Speeds und weiteren wunderhübsch anzusehenden Spezialanfertigungen. Mit einer Einladung zur Chengduer Critical Mass am nächsten Abend erkunden wir den kleinen Bazar mit vielen uns unbekannten Gemüsesorten, Gebäcken, Mantou (Hefeklöße mit und ohne Füllung), fremden und exotischen Angeboten, wir staunen an jeder Ecke. Ein vorerst letztes deutsch-französisches Abendessen im chinesischen Lokal, ein gemütliches Bier im Hof des Hostels und der Austausch über die verschiedenen Reiserouten die nächsten Tage betreffend beenden vorerst die gemeinsame Zeit. Die Grenobler Jungs in neuen weißen Decathlon – Regenmänteln nehmen, nach einer herzlichen Verabschiedung am nächsten Morgen, einen Bus nach Kangding und beradeln erneut Berge, Pässe und Höhe über 4500m…da wissen wir noch nicht wie bald wir sie wiedersehen werden! Wir verbringen unseren Tag mit weiteren Stadterkundungen, dem Probieren verschiedener Köstlichkeiten und einem „delicious“ Nudelabendessen, bevor wir mit ca. 40, meist „foreigner“-Radfahrern, Musik und einer Menge Spaß durch die Chengduer Innenstadt cruisen, vorbei an Mao, Hochhäusern und staunenden Chinesen.