Provinz Xinjiang

Kashgar – Chengdu (18. – 23.10.)

 

Leonie’s erster Text:

 

Drei Tage Zugfahren!

Als das Bahnhofspersonal die Türen zum Bahnsteig öffnet kommt Unruhe auf, alle drängeln zur Glasschiebetüre, die auf den leeren Bahnsteig führt. Wir erheben uns langsam, als ein Großteil der Menge bereits ihren Weg zum Zug gefunden hat, da werden wir fast gescheucht, das Ticket zum zweiten Mal kontrolliert und raus auf den Bahnsteig, eine Tasche über jeder Schulter, die große ca. 25kg Tasche in der Mitte, Rucksack schleppen wir uns natürlich zum hintersten Ende des Zuges. Dritte Kontrolle der Tickets und geschafft ist es, für die nächsten 24 Stunden ist die Bewegung auf einige Meter auf und ab, hoch und runter von den Pritschen eingeschränkt. Wir richten uns ein mit unseren chinesischen Abteilnachbarn, Platz tauschen, um gemeinsam mit Clément und Matthieu ein Abteil zu teilen, nicht erlaubt!

Der Zug rollt los und so starten wir unsere 72 Stunden Zugfahrt. Vorbei geht es an Geisterbahnhöfen (keine Menschen, die warten, sich verabschieden oder begrüßen, der Bahnsteig darf nur mit gültigem Ticket betreten werden, wenn der Zug bereits wartet) durch die karge Wüste, durch die Nacht zum Umstieg nach Urumqi. War es in Kashgar angenehm spätsommerlich warm erwartet uns in Urumqi Regen, Wind, Kälte und Ungemütlichkeit. Da verlassen wir den Bahnhof, der eher einem Hochsicherheitstrakt gleicht nur kurz, um danach gemütlich in der Wartehalle zu dinieren.

Wieder im Zug erwartet uns im Nachbarabteil eine männlich aktive Kartenspielerrunde, immer wieder ertönen lautstarke Stimmen, kräftiges Räuspern und ein tspsh – das Schild „no spitting“ wird hier nicht so ernst genommen. Wir verbringen unsere Zeit mit lesen, schreiben, Bilder durchstöbern, nähen, essen durchmischt mit reichlich Schlafeinheiten. Wer glaubt Zugfahren ist langweilig, der irrt! Es gibt reichlich Abwechslung: verschiedene Verkäufer bieten von Gürtel, eingeschweißten Keksen oder Trockenfleisch, über Zahnbürsten, zu Powerbanks alles an. Von Zeit zu Zeit wabert eine Glutamatwolke durch den Waggon, dem folgt chinesisches Zugessen und diesem wiederrum lautstarkes Geschmatze. Je dichter man sich einem der Enden der Waggons nähert, desto intensiver wird auch der Tabakgestank, der im üppigen Dunst unangenehm lästigen Geschmack ins Badezimmer bringt und dann von der Klimaanlage im gesamten Waggon verteilt wird. Am Morgen strömt jeder 9te Chinese/In mit den Abteil-Großthermoskannen zur Warm-Wasser-Auffüll-Station, einem mit Feuer angeheiztem Heißwasserkessel.

Am Morgen des dritten Tages, endlich, die vorbeifliegende Landschaft mit ihren grünen Hügeln, Flüssen und Feldern erweckt den Wunsch wieder selbst zu strampeln. Dies dauert jedoch noch weitere 10 Stunden, bis wir Chengdu, die Pandastadt im Dunkeln erreichen, der Gedanke ganz präsent: sind unsere Räder auch da? Raus geht es aus dem Bahnhof, Lichter, Menschen, Gewusel, rechts um die Ecke, Zettel zeigen und in eine Tiefgarage abtauchend, stehen danach unsere Räder in gutem Zustand vor uns auf dem Bürgersteig, was ein Glück! Es dauert etwa eine Stunde, gut beobachtet von den chinesischen Cargomitarbeitern, bis die Räder fahrbereit und bepackt losrollen in die Großstadt. Wir sind alle 4 euphorisch, nach knapp einer Woche wieder den Sattel unterm Hintern zu spüren und rollen voller Freude durch die leuchtende Stadt zum auserwählten Hostel.

Ein schönes 6 Bett Zimmer gehört uns und es dauert nur wenige Minuten, bis darin das Radlerchaos ausgebrochen ist: 22 Taschen mit deren Inhalt kreuz und quer, die Wäscheleine mit der ersten zu trocknenden Wäsche im Zick-Zack gespannt und dazwischen 4 Radler kauend, mit mittellautem Peter Fox im Ohr – wir fühlen uns wohl! Die nächsten zwei Tage wollen wir Chengdu erkunden. Nicht zu spät starten wir mit den Rädern zur ersten touristischen Sehenswürdigkeit, dem Wuhou – Tempel. Ernüchtert von Touristenströmen und teuren Eintritten bevorzugen wir doch lieber ruhigere, kleinere Sträßchen und besuchen den von 2 Amerikanern betriebenen Natooke-Radladen und staunen nicht schlecht über Bambuslastenräder, Single Speeds und weiteren wunderhübsch anzusehenden Spezialanfertigungen. Mit einer Einladung zur Chengduer Critical Mass am nächsten Abend erkunden wir den kleinen Bazar mit vielen uns unbekannten Gemüsesorten, Gebäcken, Mantou (Hefeklöße mit und ohne Füllung), fremden und exotischen Angeboten, wir staunen an jeder Ecke. Ein vorerst letztes deutsch-französisches Abendessen im chinesischen Lokal, ein gemütliches Bier im Hof des Hostels und der Austausch über die verschiedenen Reiserouten die nächsten Tage betreffend beenden vorerst die gemeinsame Zeit. Die Grenobler Jungs in neuen weißen Decathlon – Regenmänteln nehmen, nach einer herzlichen Verabschiedung am nächsten Morgen, einen Bus nach Kangding und beradeln erneut Berge, Pässe und Höhe über 4500m…da wissen wir noch nicht wie bald wir sie wiedersehen werden! Wir verbringen unseren Tag mit weiteren Stadterkundungen, dem Probieren verschiedener Köstlichkeiten und einem „delicious“ Nudelabendessen, bevor wir mit ca. 40, meist „foreigner“-Radfahrern, Musik und einer Menge Spaß durch die Chengduer Innenstadt cruisen, vorbei an Mao, Hochhäusern und staunenden Chinesen.

Irkeschtam (Grenze) – Kashgar (12.10. – 18.10.)

Militär, Polizei, Grenzbeamte und viel mehr Reisende warten, erwarten oder erraten besser gesagt den bürokratischen Ablauf, die eine Reisegruppe wird hier plaziert, die nächste dort zum Warten geparkt, hier wird der Pass kassiert, dort die Unterhaltung unterbunden und in Mitten des Kulturwandels steht der Nachtbus aus Osh aus dem plötzlich Katrin und Christian aussteigen. Die beiden Schweizer aus der Nähe von Zürich, die wir auf dem Weg nach Khorough verloren hatten, in Osh aber wiedergetroffen hatten. Die zwei, so scheint es sind bereits einen Schritt weiter. Fahrräder und Gepäck stehen gut sortiert im Bereich der Verladungsabfertigung, von dort wird es dann mit dem Taxi nach Wuqia weitergehen. Wer jetzt denk: „Ah die Schweizer, erst mit dem Shuttelbus zur Grenze und dann gleich mit dem Taxi weiter!“, der irrt. Alle Touristen, selbst die kirgisischen Grenzgänger müssen das ca. 160km lange Stück bis nach Wuqia mit dem Sammeltaxi überbrücken. Grund hierfür ist, dass die tatsächlichen Einreise- und Immigrationsbüros erst in der benannten Stadt die Pässe und Visa einscannen, wonach die Einreise korrekt abgeschlossen ist. Vorher ist es dem Reisenden nicht erlaubt, sich frei auf chinesischem Boden zu bewegen. Lukrative Sache für die Taxifahrer, die eigens den Preis mit den Neuankömmlingen aushandeln. Da kann die Preisvorstellung schon einmal weit auseinander gehen. Zu Viert zahlen wir nach Verhandlung später 600 Yuan was etwa 100$ entspricht.

Selbst wir irrten uns gewaltig mit Katrins und Christians Weiterreise an diesem Punkt und selbst die Beiden irrten auf andere Art, an einer anderen Stelle, denn als sie mit dem Bus die Grenze passierten und nach langer Zeit die Pässe auf das chinesischen Visa kontrolliert wurden, stellte sich heraus, dass nicht ein Irrtum vorlag sondern die Visa um zwei Tage ihre Gültigkeit verloren hatten. Den Beiden war nur ganz leicht schweizerische Selbstkontrolle, falls es so etwas überhaupt gibt, anzumerken. Wüsste ich einen kraftvollen Schweizer Fluch, er würde hier gut Platz finden, aber selbst wir konnten es kaum begreifen, vielleicht lief auch noch alles im Schema Aktion-Reaktion. Uns vier schlugen die Herzen bis zum Hals, immer wenn wir/ich mich hineinversetze, stehe ich mit der Unterkante Unterlippe in der Jauche! Leonie wiederholt am Tag und den danach mehrfach, sie könne in dieser Situation nicht innehalten, Heulen, Schreien oder etwas in Stücke zerlegen! Das wäre das mindeste, die beiden Grenobler nicken dann meist einverständlich. Stark beeindruckt und in vollem Mitgefühl für die Beiden, das wir nur unpassend zum Ausdruck hätten bringen können, winken wir den Beiden im Rücken zu, als sie zurück nach Irkeštam rollen.

Das Pickup-Taxi brummt über die Autobahn, die, so schein es nur für Taxis und Schwerlastverkehr gebaut wurde, Richtung bürokratische Erfassung. Braun-beige Berge, Täler die durch das Braun seitlich verwindend schwinden und gen Himmel rennen, mal eine kleine Siedlung, dann ein Checkpoint, wieder sandfarbene Landschaft mit spärlichem Bewuchs. Tankstellen die Kasernen ähneln, wir tanken. Besser: Wir müssen das Auto vor der Tankstelle verlassen und der Fahrer tankt, er setzt zurück, passiert die Sicherheitsschranke, alle wieder rein, weiter geht‘s! Plötzlich wird die Straße breiter, wir rollen auf eine Art Terminal zu und sind da. Im Inneren des Hangers: Offizielle, viele Schalter und Sicherheitsschranken. Eine größere Gruppe wartet auf Abfertigung, Kameras an jeder Ecke und jedem Winkel, alle mit Wärmesensoren und alle vollautomatisch, sodass sie, ist man einmal aufgefallen (markiert), den Blick nicht mehr von einem nehmen. Auffällig ist die große Liste der Verbote und verbotenen Gegenstände! Was nahezu all unseren Proviant miteinschließt. Clément und Matthieu werden mit all ihren Wurst- und Käsevorräten nervös und beschließen diesen Teil des Proviants schnellst möglich mit dem Brot aus Irkeštam zu retten! Indem es die Scanner im Magen passiert. Auch wir nehmen unser Mittagessen zur Brust und siehe da, auch die anderen Reisenden erst schmunzelnd, dann über Flyer realisierend, freunden sich mit dieser Variante der Rettung an. Da sitzen plötzlich mehr Leute mit ihrem Essen, als Leute die auf schnelles Vorankommen hoffen, denn je nach Ausmaß der Vorräte und Trainingsstand der Verwertung, braucht es eben Zeit 400g Käse, 1kg Currykichererbsen, zwei Brote, drei Würste, 100g Butter und Dreierlei aufzunehmen. Wir beschließen das frische Gemüse in den Taschen auf Risiko und geflunkerter Unwissenheit mit einer großen Masse an anderen Radtaschen durchzumogeln, sodass es dem Scanner schwindlig wird! Zack! Guter Trick alles in der Tasche, Stempel im Pass, der Rest im Magen und nix wirklich verschwendet.

Von hier nach Kashgar, durch das Land der Uriguren. Die ersten Bögelchen, die ersten Tritte und Schritte, so viel Kontrast in Gedanken an das, was hinter uns liegt. Entzückt und staunend passieren wir einen Schulhof, auf dem riesige Schülergruppen, an den Knöcheln zusammengebunden im Takt zur gepusteten Trillerpfeife des Lehrers, den Hof zu queren versuchen. Wir schmunzeln über den kalkulierten Spaßfaktor und cruisen durch die Stadt ins Freie der Felder und Plantagen, Richtung spärlich detaillierten Karteninformationen unseres Kartenmaterials. Es gäbe die Möglichkeit, über den Highway zu gähnen, doch nach so viel Highspeedtransport, entscheiden wir uns für die unbefestigten Wege und dürfen sogleich den ersten Fluss, der glücklicherweise wenig Wasser führt, queren.

Am darauf folgenden Tag, knistern und rattern wir gemeinsam über Schotterpisten durch ein weites breites Tal. Es wird wärmer, fast heiß als wir nach 30km wieder Asphalt berühren. Sogleich im kleinen Ort am Checkpoint werden wir angehalten. Reisepässe! Visa! Die Pässe wechseln verschiedene Hände, keiner der Leute ist sich sicher wo der Namen, die Passnummer oder das Geburtsjahr steht. Hier ist Mann nur chinesische Charakter gewohnt. Nach Diskussion geht es weiter, mit dem Wissen das im nächst größeren Ort wieder eine Kontrolle auf uns wartet. Am Ortseingang eskortiert uns die Polizei ins Zentrum zum Revier, auf dem wir registriert werden und nahezu jeder Polizist die Pässe die Räder und unsere Namen checkt. Nach 30 Minuten dürfen wir den Innenhof der Polizeistation wieder verlassen. Der Magen meldet Hunger, bei dem Versuch an einem kleinen Imbiss an der nächsten Ecke zu stoppen, drängt uns jedoch die Polizei, die in zivil folgt, die Stadt in Richtung Kashgar zu verlassen. Verdutzt wird weitergestrampelt und nach der nächsten Kreuzung, die nach Kashgar abbiegt gelingt es einen Platz zum Mittagessen zu finden, den wir genießen. Gut gestärkt sitzen wir auf und erreichen nach eineinhalb Stunden Highspeedasphalt die von hier 36km entfernte Stadt. Im Stadtzentrum stürze ich noch kurz mit eingerastetem Klickpedal in den Bürgersteig, gleich beim Bazar um die Ecke, dass die einheimischen Fußgänger, beherzt lachen, danach checken wir sicher im Hostel der Oldtown ein. Nach witziger Verhandlung beziehen wir das Mehrbettzimmer für 5 Nächte, bis der Zug uns nach Chengdu bringen wird.

Im Hostel selbst herrscht quirlige Stimmung, die Schweizer aus Bern, das deutsche Päärchen aus Dresden, beide sind Tags zuvor angekommen, ein wenig stellt sich das TES Feeling ein, als Céline und Origan für zwei Nächte das Zimmer mit uns teilen, da ihr Couchsurfer sie gegen Neuankömmlinge eintauscht. Der Innenhof und die überbalkonten Terrassen laden zum Frühstücken und geselligem Miteinander ein. War Osh ein Ort an dem viele Reisende aus Europa zusammentrafen, so sind sie hier deutlich geringer in ihrer Zahl im Vergleich zu den „einheimischen Reisenden“.

„Monkey“ ein Chinese aus dem Osten der Volksrepublik, der hier Ferien als freiwilliger Helfer leistet, findet regen Gefallen an uns Radreisenden. An einem Abend kaufe ich zusammen mit ihm für ein Nudelgericht mit Öl auf dem Bazar und im Nudelladen der Stadt ein. Spektakulär wird gebrutzelt und lecker schmeckt‘s! Besten Dank an den Koch. Mit den Tagen wächst die Radszene mit Ro und Zy, aus Changsha die gerade von Lhasa kommen und mit Fred, der als Schwede perfektes chinesisch spricht.

Der Nachtbazar packt uns mit all seinen neuen, verrückten Variationen an Snacks, überall brodelt, brutzelt, köchelt, dampft oder raucht es aus Töpfen, Pfannen, rußigen Kesseln oder wabernden Grills. Vorwiegend Fleisch, alles was als Fleisch oder Tier identifizierbar ist oder war, wird angepriesen. Hautlappen, Darmschläuche, Schweinerüssel, Hühnerkrallen, Ochsenschwanz, Hoden und Ochsenhuf, seien einmal die Dinge die direkt ins Auge springe. Drüben fliegen und knallen die Nudeln, kleine vegetarische Bissen sind die Ausnahme, aber geschmacklich delikat! Aber nicht nur der Nachtbazar dampft, jede kleine Snackbar auf der Straße bläßt den Qualm mit starken Ventilatoren gen Himmel und hüllt die Nacht in ein ganz eigenes kashgarisches Flair.

Nachdem die Räder, nach sorgfältigem Verpacken, für den Transport bereitstehen und der Herr vom Bahnservice unsere Verpackung nicht so recht akzeptieren will, bedarf es kleiner Änderungen, einem extra Packet und hier und da ein paar Gramm Nerven. Dann verlassen sie uns im Transporter Richtung Chengdu. Zu Fuß durch die Stadt, seit Monaten kein Rad zu Verfügung, auf dem Hauptbazar der Stadt decken wir uns für die Zugfahrt ein und staunen auf dem Rückweg durch die verwinkelten Gassen der alten Stadt in der Stadt, die abgekapselt ohne jegliche Verbindung im Zentrum ein Eigenleben brühtet.

Mit dem Bus Nr. 86 nehmen wir Fahrt zum Bahnhof auf. Nervös ob unser Gepäck mit Messer, Schere, Werkzeug, Bremsflüssigkeit und anderen speziellen Dingen den Bahnhof, der einem westlichen Flughafen gleicht, passieren wird. Schere und Gaskartusche schaffen es nicht, wir sind froh den Rest behalten zu dürfen. Es wartet jeder und alles auf den Zug. Drei Tage werden einen großen Abstand zwischen heute und Chengdu bringen, zu viert sind wir gespannt und warten.