Eines der besten Fernbusnetze hat die Türkei und als wir mit dem Rad auf den Otogar Istanbul auffahren, erstreckt sich ein Parkplatz so groß wie 6 Fußballfelder, dessen Seitenauslinien durch gefühlte 150 verschiedene Busunternehmen begrenzt wird, vor uns. Die populärsten Linien hatten wir uns aufgeschrieben, doch immer wenn wir unsere Räder zeigen, werden wir lächelnd darauf hingewiesen, dass gerade Ferienbeginn ist, zudem Wochenende und die Busse voll mit Waren und Mitbringsel aus Istanbul sind, die dieser Tage mit den Verwandten in alle Richtungen des Landes unterwegs sind. Wir schieben unsere Räder weiter entlang des Seitenaus, etwas nervös, ob der Absprung heute gelingt. Von allen Seiten hören wir die Busfahrer und Busbegleiter rufen: Ankara! Izmir! Ankara! Antalya! Trapzon! Wir erwidern dann Zonguldak! Und das Werben um uns erlischt. Mit etwas Hilfe von Reisenden und Reiseanbietern gelingt es dann: Abfahrt 15:00 inkl. Räder & Gepäck nach Zonguldak. Als es losgeht staunen wir über Komfort, Fahrerqualität, Stau vor der Bosporusbrücke und die Ecken Istanbuls, die wir nie zu Gesicht bekommen haben. Müde von der gestrigen Partynacht, mit 3 Stunden Schlaf (das wollte ich zumindest einmal ausprobieren), kommen wir nicht zur Ruhe. Aircraft-Comic Movie und die türkischen Fernsehsender geben mir dann den Rest und auf halber Strecke schlaf ich ein. Leonie hört zum ersten Mal seit der Reise Musik und döst mit angelehntem Kopf am Fenster. Alle Stunde werden kleine Snacks und Getränke gereicht, auf dem Sitzplatz vor uns werden zusätzlich Kakao und Reiscrispwaffeln gegessen, die im letzten Viertel der Strecke über den Sitz erbrochen werden. Pfui, aber kein Wunder die Straßen werden immer kurviger und gepaart mit Auf und Ab, fährt der Magen einer Dreijährigen gleichsam Achterbahn. In Kozlu (hier besteht kein Zusammenhang mit dem säuerlichen Geruch im Bus), kurz vor Zonguldak steigen wir aus. An der Haltestelle erwartet uns Ersin, der ehemalige Mitbewohner von Ceyhun, sein Auto steht bereit, um Taschen zu verladen und uns den Weg zu ihm auf den Berg zu zeigen. Ersin ist tagaktiv, das erwähnt er, um den Unterschied zu Istanbuler Partypeople zu verdeutlichen. Morgen finden Examensprüfungen an den Gymnasien statt, die er konzentriert beobachten wird. Es bleibt nicht viel Zeit um seine skeptischen Bedenken unserer Fahrradreise gegenüber zu lockern. Es wird gelacht, wir reden über seine Arbeit, über das Leben an der Schwarzmeerküste und die Strecke die vor uns liegt. „It will be so hard for you!“ Wenn wir Zeit haben, sollen wir weiter Richtung türkisch-georgische Grenze fahren und die Region Artvin besuchen. Ursprünglich stammt er aus der Volksgruppe der Las, die dort beheimatet ist. Am nächsten Morgen wünscht uns Ersin viel Glück und keine Probleme auf unserer Reise. Wir bedanken uns für Alles und starten um 08:15 in den ersten Tag an der Küste.
Nach so langer Zeit an ein- und demselben Ort, ist das Gefühl für das Fahrradfahren und die Leichtigkeit des unterwegs seins, wie in ferner Vergangenheit. An diesem Tag ist es heiß, die Hügel sind noch bezwingbar, trotz das uns die Beine an 15% Rampen krampfen, fahren wir ein beachtliches Stück und beschließen am frühen Abend einen Platz zum Zelten zu organisieren, um den ersten Tag auf uns wirken zu lassen und uns zu erholen. Auf dem Kamm eines Hügels, unweit von Sarmasik hören wir beim Vorbeifahren im Garten eine Gruppe sich unterhalten, mit der Idee nach Wasser zu fragen, ergibt sich spontan eine Einladung zum Essen, (Wasserspatzen mit Käsespinatfüllung) die dann in Marmelade gedippt werden. Super lecker! Wir können und sollen uns nicht zurückhalten. Eine witzige und liebe Gruppe sitzt hier jeden Tag im Garten und lässt es sich gut gehen, so wird uns von den beiden Niederrheinern Leyla und Talu erzählt, die einst nach Deutschland gingen, den Sommer aber gerne in der Türkei verbringen und uns ihren Verwandten und Freunden vorstellen. Spontan wird der Lenkanschlag am Gabelschaft repariert, im Anschluss gekocht und zusammen am Feuer gegessen. Wir schlafen vorzüglich bis die Sonne das Innenzelt erhitzt.
Über Hügel geht es zurück an die Küste, an der bis nach Gerze eine kontinuierliche schwach befahrene, schmale Straße auf und ab quer zu stets 600 Meter hohen Hügeln führt. Im Schnitt steigt oder fällt diese zwischen 10% bis 12%, ebene Passagen finden wir keine. Auf der Straße: Hitze, schweißgebadete Shirts an jedem Scheitelpunkt, weicher Teer mit Radprofilabdruck, uralte LKW’s die sich in Schrittgeschwindigkeit am Berg an uns vorbeiquetschen und im Gefälle wieder überholt werden, man kennt sich am Ende einer Tagesetappe, kleine Dörfer, Trinkwasserbrunnen, lange Mittagspausen und viele Trockenfrüchte mit Nüssen als Energiereserven. Am Strand einer kleinen Bucht, östlich von Amasra, bleiben wir. Das Zelt bleibt im Packsack, denn Regen ist keiner in Sicht, es gibt zwei Liegen für 5TL, Abendessen und am Morgen frühstücken wir im Schatten des Strandcafés, ehe der Tag knallhart bergauf zur Straße führt.
Die Natur legt nochmal an Grün zu und wir haben stets das Gefühl, enge, urwaldartige Täler mit tief braunen Bächen zu queren, über die kurze ebene Brücken führen. Also doch ebene Passagen! Ja stimmt, meist keine 70 Meter lang und sehr ramponiert, also echte Schwungbremser, wenn eigentlich auf der gegenüberliegen Seite in den nächsten Anstieg gerast werden möchte. Vor Cide kommt uns plötzlich ein entspannter Radfahrer entgegen. Er hält direkt auf uns zu, erst bin ich verwirrt, dann check auch ich, dass uns Ali auf dem Weg entgegengefahren ist und uns den Weg zu sich nach Hause begleiten wird. Die letzten 15 Kilometer summen an uns vorbei. Denn die Straße nach Cide von Westen nach Osten ist abschüssig und flach! Wir können uns beim Radeln sogar unterhalten. Ali wohnt alleine in einer riesigen Wohnung, mal schläft er in dem einen, mal in dem anderen Zimmer. Wir plaudern, trinken türkischen Kaffee mit ihm und seinem Freund Ersin, in einer fast geschlossenen Bucht, gehen am Strand schwimmen, danach duschen und Kochen zusammen das Abendessen, mit den restlichen Zutaten seiner Exfreundin, die noch im Kühlschrank stehen. Ali ist Deutsch- und Mathematiklehrer, er hat in Ankara studiert und ist nach dem Studium in Cide gelandet, da ihm die Bilder auf Google eine süße Stadt am Meer mit abwechslungsreicher Natur versprochen hatten und er prompt die Stadt als zweite Option angab. Zur Zeit trifft es genau das Bild, er versichert uns aber, wir hätten mächtig Glück, 3/4 des Jahres sei es hier trist, grau, windig, kalt und junge Menschen suche man vergeblich. Später sitzen wir noch in Ersins Wohnung im ersten Stock, trinken Chai und auch er bestätigt das Flair in Cide. Wir fühlen uns sehr wohl bei Ali, er ist unkompliziert, lässt uns allen Freiraum. Am nächsten Morgen werden wir eingeladen zum Frühstück mit seinen Kollegen im Garten seiner Schule, wir sind fasziniert und tauchen ein in das Schlaraffenland des Frühstücks! Köstlich, lecker, die Stimmung ist herzig, die Lehrerinnen beäugen uns, welche der Häppchen uns am besten schmecken, dann tuscheln sie und lachen. Die Schule wird gezeigt, Bilder werden geschossen, noch eine Woche sagt Ali dann sind die Nach- und Vorbereitungen abgeschlossen, dann geht es auch für ihn in den Urlaub, eine kleine Radtour im Westen der Türkei ist geplant, auf die er sich sehr freut. Am späten Nachmittag verabschieden wir uns mit Dank und vollen Lobes für die gemeinsame Zeit, 16km hinter Cide unter einem Kirschbaum. Bis hier hat uns Ali begleitet.
Winkend trennen sich unsere Wege und 25km später bereiten wir auf einem verlassenen Rastplatz unser Abendessen, auf dem Betondach der einstigen WC-Anlagen. Weil es im Hinterland blitzt und auf offener See dicke Wolken heranziehen, wird im Dunkeln dann doch das Zelt, bei aufbrausendem Wind, auf hartem, schiefem Steinboden, bei explosiver Laune meinerseits aufgestellt. Nach mäßigem Schlaf starten wir in den nächsten Tag, dem Beginn des Ramadan. Es wird eine Weile dauern, bis wir uns aklimatisiert haben, falls wir es überhaupt schaffen. In den Dörfern und Ortschaften entsteht der Eindruck, dass sich deutlich mehr Männer im Schatten der Kaffees mit Perlenkettchen ablenken als noch die Tage zuvor. In den Geschäften ist weniger Andrang und Schnellrestaurants sind größtenteils geschlossen. Hitze, Durst und Hunger, mittags picknicken wir ausgiebig und meiden dabei öffentliche Plätze. Als Abends das Zelt, halb offensichtlich 8 Meter entfernt von der Straße steht und wir gerade versteckt unsere Duschzeremonie beenden, hält ein Kleintransporter am Straßenrand, er setzt zurück, er steigt aus und als er mit Leonie sein fünftes, sechstes Bild machen möchte und er ihr permanent auf die Pelle rückt, fühlen wir uns zum ersten Mal auf der Reise für den Moment wirklich unwohl. Er lässt sich schließlich abwimmeln und fährt von Dannen. Als gegen 3:15 genau in Blickrichtung unseres Zeltlüfters, ein Auto hält, sich Türen öffnen und schließen, ist das Unbehagen wieder da. Erholung fühlt sich beim Frühstück anders an!
Gähnend starten wir in den Tag, zum Glück ist die Strecke heute flacheren Gemüts und wir kommen bis in den Mittag ein gutes Stück voran. Als die Straße rechts an einem Restaurant und einer am Strand stehenden Moschee vorbeiführt und unser Blick nach der Kurve weit in die Ferne reicht, gerate ich innerlich in Panik. Ohne lange zu zögern, wende ich, mit Blick Richtung Leo und der wieder vor uns liegenden Moschee. Auch Leonie hat die Situation begriffen, ca. 500 Meter hinter uns hetzen 8 bis 10 Hunde in unsere Richtung! Zu unserem Glück geht es leicht bergab und nach 200 Metern stehen wir unter Bäumen auf dem Parkplatz des Restaurants, gespannt ob gleich das Rudel über uns herfällt!? Als nach 20 Minuten nichts passiert beladen wir die Räder mit Steinen und einem Schlagstock um zumindest vorbereitet zu sein, falls sie auf uns lauern. Die nächsten 10km ist kein Hund mehr in Sicht, das vermeintliche Actionvideo in dem ich Leonie im Kampf gegen 10 blutrünstige Bestien verteidige läuft aber noch ein paar Mal in meinem Kopf und Gedanken rund. Leonie ist da entspannter. Kurze Zeit später schließt ein Texaner zu uns auf. Robert ist in Passau gestartet, hat seine Freundin in München zurückgelassen und ist auf dem Weg nach Georgien. Wir unterhalten uns ein paar Meilen, dann düst er davon. Es ist 17:00 Uhr und er möchte noch 70km fahren erklärt er uns. Puh denken wir beide, das müssen wir uns nicht geben, landen dann aber auch knappe 50km später, bei Regen auf einer traumhaften Bergwiese im Wald. Wir genießen die Einsamkeit, fernab einer Straße. Einzig das Piepsignal der rückwärtsfahrenden Baumaschinen, die hier die neue Autobahn mitten durch die Berge rammen, sind leise zu hören. Zwischen trocknender Wäsche und nasskalten Packtaschen gibt es ein heißes Abendessen, danach rein in den klammen Schlafsack und schlummern.
Der nächste Tag begleitet uns bei wechselhaftem Wetter entlang der Passstraße nach Erfelek. Hier rasten wir kurz in einer Bushaltestelle hinter der Ortschaft, da wir es für nicht angebracht halten, mitten auf dem Marktplatz zu picknicken. Über eine Querverbindung lassen wir Sinop links von uns liegen und über die neue Autobahn geht es hinauf und hinab nach Gerze. Ohne wirklich zu wissen wo Elif und Yalcin wohnen, irren wir die erste halbe Stunde am Stadtrand entlang, bis wir im Zentrum auf eine Mutter mit ihrem Sohn treffen. Die beiden wissen genau wo wir hin möchten und 5 Minuten später stehen wir bei den Beiden vor der dunkelroten Haustür. Isis, die Hauskatze muss ihr Zimmer räumen, welches wir beziehen und die Räder finden Platz im 2000m² großen Garten, der einem Urwald gleicht. Lorbeerbäume, Granatapfelsträucher, Maulbeeren, Feigenbäume, Mirabellen, Walnüsse und Weinreben um den groben Überblick zu geben. Es wuchert an jeder Ecke. Elif und Yalcin sind auf dem Papier verheiratet und träumen von einer alternativen Hochzeitsparty mit Vintage-Kostümen. Sie leben in einem alten denkmalgeschützten Haus, das sie vor 5 Monaten, mit Hilfe von Bensu und Yagiz angefangen haben zu renovieren. Aktuell ist das Erdgeschoss fertig und die erste Etage ist vorbereitet zur Renovierung. Ein Haus zum Wohlfühlen, ganz anders als die neuen Betonhaussilos, die ohne Flair und Stadtgeschichte an jeder Ecke 6- bis 12- stöckig die Stadtkultur zerstören. Bis spät in den Abend wird herzhaft gelacht, beide erzählen von ihrem Job als Lehrer, Elif unterrichtet türkische Literatur und Yalcin Philosophie. Beide amüsieren sich köstlich mit uns. Der Abend muss enden, als uns Elif für den nächsten Morgen beim Wanderverein in Gerze zur Sonntagswanderung anmeldet. Start um 08:00, reine Gehzeit 7 Stunden!
Der nächste Tag bringt traumhaftes Wetter und mit dem Speedbus geht es über massivste Offroadpisten in die Berge. Wir genießen die Eindrücke, jede Pause, besonders das Picknick, die Beine sind schwer und der Akku am Ende des Tages leer! Hinunter nach Gerze fahren viele Blümchen, Bergkräuter und Yalcins Naturskulptur. Vielen Dank für die Einladung in bergiges Umland und das Gefühl willkommen zu sein. Beim Abendessen sind wir zusammen 4 Deutsche, Elisabeth und Birk sind per Anhalter unterwegs, beide bereisen die türkischen Gebirge, studieren in Halle Philosophie und auf Grund des Erasmussemesters spricht Elisabeth, nach unserem Empfinden gutes Alltagstürkisch.
Früh gehen alle zu Bett, morgen ist Montag, wir alle wollen im Garten fleißig helfen! Nach ausgiebigem Frühstück geht es los. Es ist 11:00 Uhr die Sonne steht ohne Wolke am Himmel. Es wird aufgeräumt, Erdarbeiten mit Spitzhacke und Schaufel für die Jungs, eine Trockenmauer wird begonnen, Leonie kämpft sich mit der Motorsense durch den Garten. Stets werden die Arbeiten aus der Nachbarschaft beäugt und durch vorbeigehende Fußgänger kommentiert, wie soll es auch anders sein. Als wir aus dem Hafen von Gerze zurückkommen, waren wir zusammen schwimmen, im Sokak Strandcafé Chai trinken und alles Notwendige für einen Abend mit reichlich Pizza einkaufen, der in großer Runde mit neun Leuten bis in den späten Abend zelebriert wird.
Zur Mittagszeit des nächsten Tages, sind Elisabeth und Birk zusammen mit unserer Pfanne und der Spülschüssel auf dem Weg nach Westen und im Garten wird fortgesetzt, was begonnen wurde. Mit Blick aufs Schwarzmeer und die Küste vor Sinop, schlemmen wir abends im großen Kreis bei Gülnur, der Mutter von Yagiz, bis wir fast wie runde Kugeln nach Hause rollen. Da es zur geplanten Abreise in Gerze anfängt zu regnen, bleiben wir einen weiteren Tag, an dem die Ketten beider Räder gewechselt werden, der anstehende Urlaub von Elif und Yalcin diskutiert wird und wir die letzten Vorbereitungen treffen, um mit Elif und Yalcin am frühen Morgen des nächsten Tages, das Haus zu verlassen, da beide Termine haben. Gesagt getan. Zum Abschied kocht Yagiz am Abend ein vorzügliches Fischgericht, Leonie sorgt für Kaiserschmarrn und wieder einmal sitzen wir bis spät in die Nacht, erzählen und diskutieren. Als wir an der langen Straße links abbiegen, sehen wir die beiden noch winken! Wir haben uns so richtig wohl gefühlt bei herzlich offenen Menschen im Haus mit Urwald.